Doch was geschieht, wenn diese Entscheidung, in bester Absicht getroffen, sich als unsichtbare Falle entpuppt?
Geralda Maria Santos, 73, glaubte, die richtige Wahl getroffen zu haben.
Sie verkaufte ihr Haus in Belo Horizonte und zog zu ihrer Tochter nach São Paulo. Schon bald merkte sie, dass sie ihr Leben nicht mehr selbst bestimmen konnte.
Die Illusion der Gastfreundschaft
Zuerst schien alles einladend. Ihre Tochter empfing sie herzlich, ihre Enkelkinder feierten ihre Ankunft, und es wurden ihr Fürsorge und Geborgenheit versprochen. Doch bald änderte sich alles.
Das barrierefreie Zimmer war klein und fensterlos. Der Alltag war nicht mehr frei. Die Mithilfe beim Mittagessen wurde zur Pflicht.
Dann kamen die Bitten: auf die Kinder aufpassen, Abendessen kochen, das Haus in Ordnung halten. Geralda begann, für andere zu leben – ohne es zu merken, wurde sie wie eine Magd, ein Kindermädchen, eine Köchin behandelt.
All das, getarnt als „familiäre Liebe“.
Der Verlust des Selbst
Mit der Zeit war der größte Schmerz nicht der körperliche, sondern der seelische. Geralda war nicht mehr sie selbst. Sie war zu „Lucianas Mutter“, „der helfenden Großmutter“, „Dona Geralda, die immer da ist, um zu helfen“ geworden.
Schlimmer noch: Niemand sah ein Problem. Wenn sie versuchte, sich jemandem anzuvertrauen, hörte sie Sätze wie: „Aber du hast doch Essen, du hast ein Bett, du hast Zuneigung …“.
Als ob das die Auslöschung ihrer Identität rechtfertigen würde.
Der Wendepunkt
Ein Anruf aus der Vergangenheit rüttelte Geralda wach. Eine ehemalige Kollegin aus dem Gemeindezentrum erzählte ihr, dass eine verstorbene ehemalige Schülerin einen Dankesbrief hinterlassen hatte.
„Du hast mir ein neues Leben geschenkt“, stand in dem Brief.
Da erkannte sie: Sie hatte immer noch Wert, einen Sinn im Leben und das Recht, für sich selbst zu existieren. Und sie beschloss, sich zu verändern.
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